Die Macht von User Experience – ein Fallbeispiel

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Claudia Kempf

ist UI/UX-Designerin und schreibt in einem Gastbeitrag über User Experience, User Interface und Usability.

Tom nimmt dich mit auf seine Reise. Vom Entscheid eine neue Mitarbeiter-Software zu entwickeln über den Konzept-, Design- und Entwicklungsprozess bis hin zur Einführung. Was dabei für Herausforderung auftauchen, wie sie gemeistert wurden und welche Rolle «User Experience» dabei spielte, erfährst du hier.

Inhalt

Es ist frühmorgens als Tom bei seinem Arbeitsplatz eintrudelt. Er arbeitet bei einem mittelgrossen Unternehmen, das  verschiedene Dienstleistungen in der Logistikbranche anbietet. Er leitet hier ein kleines aber feines Team von zwei Personen in der Administration. Heute freut sich Tom besonders mit dem Arbeitstag zu beginnen, denn heute ist der Kick-Off Termin für die neue Mitarbeiter-Software. Zusammen mit seinem Team und der Geschäftsleitung haben sie beschlossen, eine Anwendung zu entwickeln, die es ihnen ermöglicht, Aufträge digital für die Mitarbeiter:innen zu erfassen und zuzuweisen. Die Mitarbeiter:innen erhalten ihre Aufträge direkt auf ihrem Tablet und können diese dort bearbeiten und abschliessen.

Ein Schritt in die richtige Richtung

Bis jetzt erstellten die Mitarbeiter:innen in der Administration mit Excel alle Aufträge und druckten diese danach für die Mitarbeiter:innen in der Logistik und die Fahrer aus. Nach dem Arbeitstag lag es nun wieder an der Administration die erledigten Aufträge manuell im System zu erfassen. Dies nahm sehr viel Zeit in Anspruch. Tom war dieses Vorgehen schon lange ein Dorn im Auge: es erschien ihm alles andere als effizient. Darum ist seine Vorfreude auf das neue Tool besonders gross, weil er sich mehr Zeit für wichtigere Dinge verspricht und das Unternehmen damit einen Schritt in Richtung Digitalisierung macht.

Als Projektleiter der neuen Mitarbeiter-Software macht er sich gemeinsam mit seinem Co-Projektleiter auf den Weg zu ihren Partnern. Die Anwendung können sie nämlich nicht selber entwickeln und arbeiten deshalb mit einer externen Firma zusammen. Natürlich haben sie vorher bereits bestehende Programme und Software getestet, aber keines hat ihren Wünschen entsprochen. Darum muss ein eigenes Tool her, welches voll und ganz ihre Bedürfnisse abdecken kann.

Mit oder ohne UX-Massnahmen?

Tom hatte vorab zwei Angebote erhalten. Das eine Angebot beinhaltet das Konzept, Design sowie die Entwicklung der Anwendung. Das andere Angebot beinhaltet zusätzlich eine nutzerzentrierte Gestaltung und Entwicklung (Einbezug von UX-Massnahmen). Ihm wurde dieser Vorgang folgendermassen erklärt.

  • Bei der nutzerzentrierten Gestaltung und Entwicklung werden die Nutzer:innen mit ihren Aufgaben, Zielen und Eigenschaften in den Mittelpunkt des Entwicklungsprozesses gestellt.
  • Dabei wird eine hohe Gebrauchstauglichkeit (Einfachheit der Bedienung/Usability) erzielt.
  • Durch verschiedene Methoden wie Workshops, Interviews, Usability Testings usw. werden die Herausforderungen, Bedürfnisse und Wünsche der Nutzer:innen abgeholt sowie die Schwachstellen der Software evaluiert und verbessert.
  • Die nutzerzentrierte Gestaltung und Entwicklung verspricht ein höchst effizientes und zufriedenstellendes Produkt für die Nutzer:innen.

Das klingt alles gut und schön, denkt sich Tom, doch was ihm zu Schaffen macht, sind die zusätzlichen Kosten, die in diesem zweiten Angebot anfallen. 

Szenario 1: Tom entscheidet sich für Angebot 1 (ohne zusätzliche UX-Massnahmen)

Die zusätzlichen Kosten, welche einen nutzerzentrierten Ansatz mit sich bringen, schrecken Tom und die Geschäftsleitung zu sehr ab. Die Leute aus der externen Firma sind doch Profis in der Entwicklung und Gestaltung von Software und werden schon wissen was richtig ist, denkt sich Tom. Schliesslich gibt es ja auch Regeln und Prinzipien für eine gute User Experience (Nutzer:innenerfahrung), so wurde ihm gesagt. Also erarbeitet die externe Firma mit bestem Wissen und Gewissen eine solide Software für die beschriebenen Aufgaben, Ziele und Eigenschaften.

 

Die neue Software wurde entwickelt und nun arbeiten die Mitarbeiter:innen zum ersten mal effektiv mit der Anwendung. Der Unterschied von Excel-Tabellen zu den neuen Tablets ist ziemlich gross und auf den ersten Blick werden alle Probleme gelöst. Dies stimmt Tom sehr zufrieden. Doch allmählich tauchen einige Stolpersteine auf. Zum Beispiel ist einigen Mitarbeiter:innen nicht klar, wo sie einen abgeschlossenen Auftrag bearbeiten können und wo können sie Bemerkungen vermerken, die  früher einfach mit Stift auf das Papier gekritzelt wurden? Das macht die Mitarbeiter:innen unzufrieden, vorher waren einige Schritte einfacher gewesen. Hmm.. Tom und sein Team haben sich die Einführung etwas einfacher vorgestellt und werden sich bewusst, dass sie diese Erkenntnisse sammeln müssen und in einem nächsten Schritt die Anwendung nochmals anpassen müssen. Neue Anpassungsschleifen bedeuten natürlich auch wieder neue Kosten. Das muss Tom erstmal wieder bei der Geschäftsleitung durchboxen.

Szenario 2: Tom entscheidet sich für Angebot 2 (mit zusätzlichen UX-Massnahmen)

Bereits in der Phase von Konzept & Design werden die Nutzenden in die Entwicklung integriert. Tom ist also nicht mehr der einzige der Inputs zum Projekt liefert, sondern auch die Fahrer:innen, die Logistiker:innen und Mitarbeiter:innen in der Administration. Es gibt eine Vielzahl Möglichkeiten, wie das erfolgen kann. Da gibt es zum Beispiel verschiedene Interviews, Analysen, Testings usw. Die Königsdisziplin des nutzerzentrierten Ansatzes ist allerdings das Usability Testing. Dabei werden Personen aus den unterschiedlichen Nutzergruppen eingeladen einen Prototypen zu testen. Hier werden also Alex und Bea eingeladen, sie sind Lastwagenfahrer:innen. Aber auch Kathrin und Horst, die  in der Administration arbeiten sowie Sarah und Leonie, die  im Team der Logistik tätig sind. Ihnen werden jeweils einzeln Aufgaben gestellt, die  sie mit dem Prototypen zu lösen versuchen. Hier geht es vor allem darum, die Schwachstellen zu evaluieren, weshalb herausfordernde Aufgaben gestellt werden. Beim Usability Testing geht es nämlich nicht darum aufzuzeigen, wie gut das Produkt bereits funktioniert, sondern wo Verbesserungspotential besteht. 

 

Bereits die erste Testrunde hat dem Design-Team wichtige Erkenntnisse geliefert, die  in die weitere Entwicklung fliessen. Da die Testings bereits vor dem Start der Entwicklung und Programmierung durchgeführt wurden, kann der Prototyp durch die Ergebnisse schnell und einfach angepasst werden und kommt erst danach zu den Entwicklern. Eine Anpassung in der Konzept- & Designphase geht nämlich viel schneller, als wenn dafür extra eine oder gleich mehrere 100 Codezeilen umprogrammiert werden müssen.

 

Nach der ersten Anpassungsschlaufe wird noch ein zweites Testing durchgeführt. Hierbei wird geprüft, ob die Schwachstellen behoben werden konnten oder sogar verschlimmbessert wurden. 

Der ganze Vorgang begeistert nicht nur Tom sondern auch die Mitarbeiter:innen. Ihre Stimme wird gehört und sie können ihre Gedanken und Wünsche zur Software abgeben und erleben sich als Teil des Prozess «ihrer» neuen Software.

 

Am Tag der Einführung ist Tom kaum nervös. Einzelne Mitarbeiter:innen haben bereits sehr positiv über die Testings berichtet und freuen sich, mit der neuen Software zu arbeiten. Trotz den Testings beobachtet Tom laufend, wie gross die Zufriedenheit ist. Natürlich kann hier und da noch ein Wunsch oder eine Verbesserungsmöglichkeit dazukommen. Das Grösste und das Wichtigste ist allerdings geschafft: die Mitarbeiter:innen arbeiten gerne mit der neuen Software.

Was zeigt uns das?

Was oftmals vergessen wird, ist, dass Anbietende von digitalen Lösungen nicht allwissend sind. Klar, es sind Profis, wenn es um digitales Wissen geht. Im Bezug auf einzelne Firmen und deren Prozesse und Wünsche betreten Profis immer wieder unbekanntes unbekanntes Terrain. Werden nun einfach vom Schreibtisch aus Annahmen ins «Dunkle» getroffen, ohne die Betroffenen vor Ort einzubeziehen, fehlt viel Wissen. Es wird also dem Zufall überlassen, ob das Produkt bei den Nutzenden auf Anklang stösst. 

 

Fassen wir zusammen

  • UX-Massnahmen ermöglichen Designer:innnen einmalige und authentische Einblicke in die oftmals von aussen verborgene Welt der Geschäftsprozesse unterschiedlichster Firmen. Oder würden wir einfach ohne Wissen und Kartenmaterial auf unbekannte und unbeschilderte Wanderwege gehen?
 
  • UX-Massnahmen ermöglichen den Einbezug wichtiger Anspruchsgruppen. Die Anspruchsgruppen fühlen sich dadurch verstanden und einbezogen. Das Gefühl von «Wir bekommen etwas vorgesetzt, was wir nicht wollen/brauchen!» weicht dem Gefühl von «Wir machen etwas gemeinsam, was uns im Arbeitsalltag unterstützt und nützt!».  
 
  • UX-Massnahmen verschaffen Projektleitenden und -involvierten Wissen und minimieren den Zufall. Wer von uns überlässt bei grösseren Investitionen ausschliesslich dem Zufall das Spielfeld?
 
  • UX-Massnahmen nehmen Fehler und Schwachpunkte vorweg. Wer zuvor vermeintlich Kosten sparen will, zahlt diese im Nachgang oftmals oben drauf. Ganz zu Schweigen vom «Vertrauensbruch», welcher bei Nutzenden eingetreten ist. Sind wir mal ehrlich, wie viele Dinge haben wir wieder ausprobiert, wenn sie beim ersten Mal kolossal scheiterten?

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